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Georg Zundel über seinen Vater Georg Friedrich Zundel

Auszug aus der Autobiographie GEORG ZUNDEL "Es muss viel geschehen!" Zundel ion vergrößern!

INFO: Im Text sind Links zu den angesprochenen Bildern versteckt!

 

Mein Vater Georg Friedrich Zundel 

Mein Vater Georg Friedrich Zundel wurde am 13. Oktober 1875 in Iptingen nahe Wiernsheim geboren, einem kleinen Ort in der Nähe von Mühlacker in Württemberg. Er hatte einen Bruder Wilhelm und drei Stiefschwestern. Sein Vater war Weinbauer und Gastwirt. Er besaß in Wiernsheim nahe Maulbronn den Gasthof „Zum Löwen“ sowie eine kleine Brauerei und am Elfinger Berg einen Weinberg. Das Gasthaus „Zum Löwen“ existiert noch. Den Löwen hat mein Vater verewigt, indem er ihn später in sein Siegel aufnahm. Zwei steinerne Löwen sitzen rechts und links am Tor des Berghofs in Tübingen, meinem Elternhaus. 

Seine ersten, sehr glücklichen Kindheitsjahre verbrachte mein Vater in Wiernsheim. Er hatte ein besonders herzliches Verhältnis zu seiner Mutter. Es gibt aus dieser Zeit eine Anekdote, die mir mein Vater erzählt hat: Im Haus der Eltern gab es einen Ficus. Eines Tages lief mein Vater zu seiner Mutter und teilte ihr mit, der Pfiffikus sei die Treppe hinuntergefallen, woran er selbst sicher nicht ganz unschuldig war. Als mein Vater sechs Jahre alt war, starb die Mutter. Über die folgenden Jahre hat er sehr wenig erzählt. Eines steht jedoch fest, er hatte zu seiner Stiefmutter eine sehr schlechte Beziehung. So kam es, dass er mit 14 Jahren sein Elternhaus verließ. Er erzählte mir oft, wie er sich am Gartentor verabschiedet hat. Seine Habseligkeiten führte er in einer kleinen Ledertasche mit sich, die er sein Leben lang aufbewahrte. Alle erwarteten, dass er in wenigen Tagen zurück sein werde, doch er hat sein Elternhaus nie mehr aufgesucht. 

Mein Großvater modernisierte die Brauerei und hat sich dabei so übernommen, dass er sie an seine Gläubiger verlor. Er verdingte sich daher als Braumeister bei der Brauerei Funk in Luxemburg. So kommt es, dass mein Vater in späteren Urkunden als aus Luxemburg stammend aufgeführt ist. Aus dieser Zeit ist auch ein Diplom erhalten, mit dem mein Großvater in Luxemburg für seine Braukunst ausgezeichnet wurde. Später machte er sich nochmals mit einer kleinen Brauerei am Bodensee, in Nußdorf bei Überlingen, selbständig. Kurze Zeit danach starb er. Mein Vater reiste nach Überlingen, um den Nachlass zu regeln. 

Als 14-jähriger wanderte mein Vater zunächst nach Pforzheim, wo er sich bei einem Malermeister verdingte. Nach zweijähriger Lehre machte er die Gesellenprüfung. Er ging dann nach Frankfurt und arbeitete in einem Dekorationsmalergeschäft. Von den sparsamen Trinkgeldern, die er erhielt, kaufte er sich als erstes Buch eine Ausgabe von Schiller, die ihn sein Leben lang begleitete. An dem Schillergedicht „Die Künstler“ vermerkte er „mein Lied“. Wie mein Vater erzählte, war in dieser Zeit auch prägend für ihn eine Diphtherie, die er in einer kalten Dachkammer nur mit Mühe überlebte. 

Bei seiner Tätigkeit auf dem Bau lernte mein Vater die Nöte der Arbeiter kennen. Im neunzehnten Jahrhundert gab es ja noch keinerlei soziale Absicherung der arbeitenden Bevölkerung. Seine Beobachtungen erweckten in ihm eine soziale Berufung. Er fühlte, dass er dahingehend wirken müsse, hier Hilfe zu leisten, sah jedoch ein, dass er als Dekorationsmaler keine Möglichkeit hatte, dies zu verwirklichen. Er sparte die Pfennigbeträge seiner Trinkgelder und erwarb eine Künstleranatomie. 

Um 1897 begann er mit dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Karlsruhe, anschließend besuchte er die Kunstakademie in Stuttgart, wo er später als freier Künstler arbeitete. Er lernte dort Felix Hollenberg kennen, der der Maler der Schwäbischen Alblandschaft wurde. Mit ihm blieb er zeitlebens eng befreundet. Als ich ihn mit meinem Vater besuchte, hat er mir, da mein Vater sie nicht annehmen wollte, drei kleine Landschaften in Öl geschenkt (Birkenwald beim Schönblick). 

Im Jahr 1898 organisierte mein Vater mit Felix Hollenberg an der Kunstakademie einen Streik. Er verlor dadurch jede Arbeitsmöglichkeit. Not, Sorgen und Melancholie, die ihn in dieser Zeit quälten, drücken sich in tristen Kohlezeichnungen aus. Der „Notschrei” stellt einen verzweifelten jungen Mann dar. Mein Vater erzählte, wie er eines Morgens in die Anatomie kam, um Studien zu betreiben und dort eine junge Tote vorfand, die in der Nacht eingeliefertworden war. Diese Tote hat ihn zu einem seiner ausdrucksvollsten Bilder „Tote Jugend” inspiriert (Tote Jugend). Es flammte bei meinem Vater erneut der Gedanke auf: Wie kann Gott Derartiges zulassen? Dieser Gedanke hat ihn sein Leben lang beschäftigt.  

Mein Vater erzählte, dass eine Rede von August Bebel seine eigene humanitäre Verpflichtung mit dem Sozialismus zusammenführte und ihm einen Weg aufzeigte, gegen die damalige ungerechte Behandlung und Ausbeutung der Arbeiter tätig zu werden. 

In Stuttgart verkehrten Felix Hollenberg und mein Vater in sozialistischen Kreisen. Dort lernte mein Vater Clara Zetkin kennen. Sie war mit ihren beiden Söhnen Kostja und Maxim nach dem Tod ihres Mannes Ossip von Frankreich nach Deutschland zurückgekehrt. Im November 1899 heiratete mein Vater die 18 Jahre ältere Clara. Es war eine Heirat, die sich stark mit der Sympathie meines Vaters zu den beiden Söhnen verband. Er siedelte sich im Oktober 1903 mit ihr und den Kindern in der Kirchheimer Straße in Sillenbuch oberhalb von Stuttgart an, in einem Gelände, das damals noch weitgehend unerschlossen war. In den folgenden Jahren hatte mein Vater seine kreativste Zeit. Es sind damals die Arbeiterbilder entstanden, die den Arbeiter als Persönlichkeit darstellen, dies ganz im Gegensatz zu den Bildern von Käthe Kollwitz, die mein Vater sehr schätzte. Man kann meines Vaters Bilder aus dieser Zeit als „Porträts von Arbeiterpersönlichkeiten” bezeichnen (Streik / Bildnis eines Schlossers / Der Mäher).  

Einen wesentlichen Niederschlag dieser sozialen künstlerischen Auffassung findet man in dem Vortrag „Kunst und Proletariat“, den Clara Zetkin 1911 hielt. Dieser Vortrag, an dessen Entstehung mein Vater entscheidend mitgewirkt hat, prägte die Einstellung von Lenin zur bildenden Kunst wesentlich. So verbot Lenin in einem seiner ersten Edikte die Vernichtung jeglicher, insbesondere auch religiöser Kunstwerke.

Der wichtigste Mäzen der Stuttgarter Kunstszene war – neben Baron Faxenfeld aus dem Hohenlohischen – Graf Casanova. Der Graf war mit meinem Vater eng befreundet. Sein Schloss, die Villa San Remigio, liegt in Pallanzaam Lago Maggiore, er hielt sich aber oft in Stuttgart auf. Ich habe ein silbernes Zigarettenetui, das der Graf meinem Vater geschenkt hat. In dieses ist folgende Widmung eingraviert: „F.Z. da E.H.C.C. Muto testimonio diun’amicizia senza parole Luglio 1900“.

Die Frau des Grafen war Künstlerin. Casanova hatte ihr in seinem Schlosspark am Lago Maggiore ein kleines Atelier erbaut. Dorthin lud er meinen Vater oft zum Malen ein. Mein Vater porträtierte die vornehmen englischen Gäste des Grafen und erhielt von diesen die Beträge, die er in Mark verlangte, in Pfund. Mit dem dort verdienten Geld konnte er das Haus und ein Atelier in Sillenbuch bauen. Es muss eine schöne und fruchtbare Zeit gewesen sein, denn mein Vater hat oft und gerne von ihr berichtet. Unter anderem erzählte er, wie er einmal spät abends nicht mehr ganz nüchtern nach Hause kam und vom Gärtner noch ins Schloss eingelassen wurde. Auch vermittelte Casanova meinem Vater andere Aufträge in Italien, so insbesondere am Hof von Siena. Das Atelier steht übrigens heute noch, worauf ich später zurück kommen werde.

Trotz dieser schönen Erlebnisse hat es meinen Vater stets nach Stuttgart zurückgezogen, wovon eines seiner eindrucksvollsten Bilder zeugt: „Die Erde”. Es stellt einen Bauern auf seiner Scholle dar. Es handelt sich unverkennbar um die Filderlandschaft zwischen Stuttgart und Echterdingen. Hans Westmeyer, der Sohn des Sozialisten Fritz Westmeyer, erzählte mir, wie er als Kind mit seinem Vater auf die Felder hinter Sillenbuch hinauswanderte, um meinen Vater aufzusuchen, der dort Landschaftsskizzen für „Die Erde” machte (Die Erde).

In dieser Zeit schaffte sich mein Vater sein erstes Auto an und wurde ein begeisterter Autofahrer. Die Rennfahrer von Daimler kannte er gut, z.B. Manfred v. Brauchitsch, Hans Stuck und Rudolf Caracciola. Letzterer gewann auf Mercedes 27 Rennen. Er war Europameister und stellte 17 Weltrekorde auf. Caracciola war Sieger beim ersten Gaisbergrennen in Salzburg. Diese Rennfahrer waren, als ich jung war, für uns Idole wie für die heutige Jugend Michael Schumacher. Rosa Luxemburg schrieb 1907 an Clara Zetkin aus dem Gefängnis in Berlin: „Auf das Autosausen jeden Abend und Morgen freue ich mich schon diebisch. Dein Dichter hat wahrhaft dichterische Einfälle, wenn er dabei nicht Pleite macht.“

 Postkarte von Rosa Luxemburg an Georg Friedrich Zundel vom 18.7.1899

Lieber Genosse! Ich war soeben in Ihrem Atelier und bedaure sehr, dass ich nicht den Maestro selbst sehen konnte. Ich fand Clara und die Jungen sehr wohl und munter, auch die Gesellschaft Ihres Freundes H[ollenberg] habe ich 20 Minuten genossen. Ich hoffe fest, Sie in Hannover zu sehen. Also auf Wiedersehen bei Philippi! A rivederci vostra

Postkarte von Rosa Luxemburg an Georg Friedrich Zundel vom 18.7.1899

 

1000 Grüße
Milles.
Rosa Luxemburg 

Ein Foto zeigt meinen Vater am Steuer seines Autos vor dem Haus in Sillenbuch, neben ihm vermutlich Maxim und im Fond die Hollenbergs. Wenige Minuten südwestlich des Zundel-Zetkin-Hauses liegt das Waldheim, eine sozialistische Einrichtung. Fritz Westmeyer gründete 1909 mit Stuttgarter Gewerkschaftlern und SPD-Mitgliedern den Waldheimverein. Mein Vater hat sich bei der Bauplanung und -ausführung sowie dem Betrieb des Waldsheims stark engagiert. 

Ein wesentlicher Grund dafür, dass mein Vater nach 1910 nicht mehr ausstellte, war sein parteipolitisches Engagement. Überdies war sein frühes Werk von einer bestimmten Art der Realitätsauffassung geprägt, die er nicht in eine moderne Formensprache umsetzen konnte. 

Im Hause Zundel-Zetkin in Sillenbuch verkehrten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg alle führenden Sozialisten, insbesondere auch Rosa Luxemburg, August Bebel und Lenin, der damals in der Schweiz lebte. Es wurde viel über die Zukunft des Sozialismus diskutiert. Clara Zetkin gab die Zeitschrift „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“ heraus. Die Abonnentenzahl stieg von 2000 im Jahr 1892 auf 125.000 im Jahr 1914 an. Mein Vater war Clara bei der Herausgabe sehr behilflich. Erst 1908 erlaubte das neue Reichsgesetz offiziell Frauen die Teilnahme anpolitischen Versammlungen. 

Während mein Vater seine Bilder der Arbeiter schuf, agierte Frau Zetkin in ganz Deutschland mit flammenden Reden gegen den drohenden Krieg. Die nationale Begeisterung der Bevölkerung war jedoch zu groß, als dass ihre sehr nachdrücklichen Reden den Ausbruch des Krieges im Jahr 1914 hätten verhindern können. Viele Jahre später sah ich den Dokumentarfilm „Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen”. In ihm ist auch Clara zu sehen, wie sie mit Vehemenz ihre Zuhörer zum Frieden bekehren will und gegen den Krieg aufstachelt. 

So ging die Zeit ins Land. Die Zetkin-Buben waren inzwischen erwachsen geworden. Beide studierten Medizin und wurden Chirurgen. 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Kostja und Maxim wurden eingezogen. Mein Vater erzählte, dass Maxim plötzlich in Stuttgart auftauchte, um an der Frau eines hohen Offiziers eine Gehirnoperation durchzuführen. Es stellte sich natürlich die Frage, warum ein so fähiger Chirurg an der Front Dienst leistete. Im Hinblick auf seine Herkunft war diese Frage leicht zu beantworten. Beide Männer haben jedoch den Krieg überlebt. 

1916 meldete sich mein Vater freiwillig zur Sanität und leitete ein Sanitätskorps. Für seine Leistungen, u.a. für die Räumung eines Typhus-Lazaretts, erhielt er Auszeichnungen, die sich in meinem Besitz befinden. 1918 hat sein Sanitätskorps während der Revolution den König von Württemberg aus Stuttgart herausgeholt und nach Bebenhausen gebracht. Als später der Berghof gebaut wurde, wanderte der König bisweilen von dort durch den Schönbuch, ein ausgedehntes Waldgebiet, um sich den Baufortschritt anzusehen. 

Die Beziehungen zwischen meinem Vater und Clara kühlten in diesen Jahren merklich ab. Dennoch klammerte sich Clara bis zur Scheidung 1927 an meinen Vater. Clara Zetkin gehörte als Abgeordnete dem Reichstag an. Maxim kaufte für sie ein Haus in Birkenwerda, nördlich von Berlin, nahe dem Bahnhof. Dieses Haus ist heute ein Clara Zetkin-Museum. 1921 ging Clara mit der Nansen-Mission nach Russland. Die Nansen-Mission hatte die Aufgabe, im Westen Klarheit über die Folgen der Revolution in Russland zu schaffen. In Russland siedelte sich Clara Zetkin in Archangelskoje an, einem kleinen Ort südwestlich von Moskau, wo sie am 20. Juni 1933 im Alter von 76 Jahren verstarb. Kurz vor ihrem Tod war sie noch einmal in Deutschland, um als Alterspräsidentin den Reichstag zu eröffnen (DHM: Audio Ausschnitt). Ihr Grab am Roten Platz ist das erste Grab an der Kremlmauer, rechts neben dem Lenin-Mausoleum. 

Es ist erstaunlich, wie offen die Stuttgarter Gesellschaft in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war. Meine Mutter berichtete, dass mein Großvater oft stundenlange Diskussionen im Treppenhaus mit dem einen Stock tiefer wohnenden Kommunisten Karl Kautsky über soziale Fragen führte. Eines Tages kam meine Großmutter nach Hause und sagte, sie habe einen Künstler gefunden, „der Menschen als Menschen malt”. Von ihm wolle sie ihre Kinder malen lassen, und so geschah es. Es entstand ein enger Kontakt zwischen der Familie Bosch und der Familie Zundel-Zetkin. So lernte mein Vater meine Mutter kennen, die er mehr als zwanzig Jahre später heiratete. Es gibt verschiedene Porträts, die mein Vater in dieser Zeit (um 1907) von meiner Mutter und ihrer Schwester Margarete (meiner Tante Gretel) malte (Bildnis Margarete Bosch / Bildnis Paula Bosch). 

Mein Vater hat nicht nur gemalt, sondern auch gedichtet, er verstand sich jedoch gegen Ende seines Lebens als Maler und Bauer. Ich erinnere mich, dass rechts hinten auf seinem eichenen Schreibtisch zwei dicke Hefte mit seinen Gedichten lagen. Diese Gedichtbücher hat mein Vater kurz vor seinem Tod verbrannt. Sein Spitzname in Sillenbuch war „Der Dichter“. Er schrieb das Drama mit dem Titel „Entlassen!“, das im Katalog der Kunsthalle Tübingen, der zu seinem 100. Geburtstag 1975 erschien, abgedruckt ist. Seine frühen Bilder signierte er jedoch mit „Zundel, Maler“.

 

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